Fallbericht Dr. Pai & ZÄ Dech

Dr. Sangeeta Pai, ZÄ Romy Dech Bei der Gesamtsanierung des parodontal stark kompromittierten Gebisses einer 69-jährigen Patientin waren für das Behandlerteam aus ethischen sowie forensischen Gründen verschiedene Aspekte für den therapeutischen Entscheid zu berücksichtigen. Seitens der Patientin gab es den Wunsch nach einer funktionalen langfristig stabilen und zugleich ästhetischen Restauration im Ober- und Unterkiefer unter Einbeziehung erhaltungswürdiger eigener Zähne. So stellten sich die Fragen, wie die individuellen Verlustrisiken für mögliche Implantate durch ihre parodontale Vorerkrankung zu bewerten sind22 und ob durch den Eingriff eine möglichst dauerhafte Verbesserung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität erreicht werden kann. Nicht zuletzt waren Alter und Gesundheitszustand der Patientin dahingehend zu bewerten, wie lange ihre manuelle Geschicklichkeit für die Mundhygiene erhalten bleiben wird. Komplexe Rekonstruktion im parodontal kompromittierten Gebiss Ausgangssituation und Patientenwunsch Die Patientin, Nichtraucherin, litt im Ober- und Unterkiefer unter einer generalisierten chronischen Parodontitis bei gelockerter (Grade II–III) und schmerzender Restbezahnung, umfangreichem vertikalen Attachmentverlust und erheblich eingeschränktem Kauvermögen. Die Molaren zeigten bereits Furkationsbeteiligung. Erhaltungswürdig waren jedoch die Eckzähne 13, 23, 33 und 43. Ein erhobener CMD-Status war ohne Befund. Die Patientin wünschte sich bei möglichst kurzer Behandlungsdauer einen festsitzenden Zahnersatz. Da sie zwei Jahre zuvor vier alio loco gesetzte Implantate verloren hatte, stand sie einer erneuten implantratprothetischen Versorgung zwar skeptisch gegenüber, Dr. Sangeeta Pai [Infos zur Autorin] Romy Dech [Infos zur Autorin] Literatur Abb. 1 und 2: Klinische und röntgenologische Darstellung der Ausgangssituation mit fortschreitender generalisierter chronischer Parodontitis und deutlichem Verlust an Weich- und Hartgewebe. 1 2 2 CME-Punkte DIAGNOSTIK UND PLANUNG 22 Jahrbuch Implantologie 2022/23

schloss sie aber nicht grundsätzlich aus. Klammer- oder Deckprothesen lehnte sie ab. Eine Full-Arch-Implantatbrücke stand aufgrund einer dafür notwendigen Extraktion erhaltungswürdiger Zähne ebenfalls nicht zur Diskussion. Zudem befürchtete die Patientin bei ausschließlich implantatgetragenen Brü- cken das Risiko ästhetischer Einschränkungen wie lange Zahnkronen oder erkennbare Übergänge von rosa Kera- mik sowie einer erschwerten Reini- gung. In einem ausführlichen Beratungsgespräch wurden zwischen dem Behandlerteam und der Patientin die Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Behandlungsoptionen – insbesondere über zu extrahierende und erhaltungswürdige Zähne – offen und für die Patientin verständlich besprochen. So konnte das Vertrauen der Patientin auf- gebaut und im Sinne einer Shared Decision Making (SDM) gemeinsam die Entscheidung für kombiniert zahn- und implantatgetragene Hybridprothese als die für das individuelle Patientenprofil bestmögliche Therapieform23 getroffen werden. Mitentscheidend war der pri- mär psychologische Vorteil für die Pa- tientin, sich über ihre verbliebenen Restzähne noch das Gefühl von eigenen Zähnen und eine gewisse propriozeptive Kontrolle bewahren zu können. Dies kann die Belastung der implantatgestützten Restauration verringern und damit deren Prognose verbessern5 (Abb. 1 und 2). Therapieplan Zahnextraktionen ausschließlich aus dem Grund, Hybridbrücken zu umge- hen, sind kontraindiziert.7, 14 Andererseits stellen parodontal massiv vor- geschädigte Zähne insbesondere bei geplanten Hybridbrücken Risiken dar, die Extraktionen, entsprechende PA- Behandlungen an verbleibenden Zähnen sowie ein zielgerichtetes Hart- und Weichgewebemanagement erforderlich machen.1 3 3 4 5 6 7 9 8 10 10 Abb. 3: Situation im Frontzahnbereich nach Extraktionen im Oberkiefer. – Abb. 4: Glätten des Kieferkamms mit der Kugelfräse. – Abb. 5 und 6: In- sertion der beiden Implantate in Regio 22 und 12. – Abb. 7: Verfüllen der krestalen Defizite in Regio 12 mit KEM. – Abb. 8: Insertion in Regio 25 nach internem Sinuslift. – Abb. 9: KEM-Auflagerung zum Kammaufbau. – Abb. 10: Abdeckung des Knochenaufbaumaterials mit porciner Membran in Regio 25. DIAGNOSTIK UND PLANUNG Jahrbuch Implantologie 2022/23 23

Unter diesen Prämissen sind teleskopierende Hybridversorgungen eine Behandlungsoption mit vorhersagbarem Therapieerfolg und hoher Patientenzufriedenheit.6, 17, 19 Geplant wurde daher nach Extraktion der nicht erhaltungswürdigen Zähne im Ober- und Unterkiefer eine Sofortimplantation mit vier im Front- und Seitenzahnbereich (Regio 15, 12, 22, 25 sowie 36, 34, 44, 46) positionierten Implantaten.9, 11, 21 Vorgesehen wurden 4,3 x 11mm SCREW-LINE Implantate (CAMLOG). Werden die Implantate quadrangulär positioniert, bleibt auch bei Verlust eines Zahns oder Implantats die Teleskopbrücke voll funktionsfähig. Die verbleibenden Eckzähne sollten in die Teleskoparbeit als natürliche Stümpfe einbezogen werden. Da damit das Abstützungspolygon eine noch größere Fläche hat, wird eine statisch sicherere Abstützung erzielt. Zudem werden durch die sekundäre Verblockung der Teleskopprothese extraaxial einwirkende Kaukräfte auf alle Pfeiler verteilt und die natürlichen Pfei- ler nicht übermäßig belastet.20 Des Weiteren erforderte die intraorale Situation eine PA-Behandlung an den Eckzähnen sowie infolge des vertika- len Knochenabbaus umfangreiche Aug- mentationen einschließlich eines simultanen internen Sinuslifts sowie eine Vestibulum-Plastik zur Verdickung des Weichgewebes im Unterkiefer. Wegen der umfangreichen chirurgischen Ein- griffe sollten die Implantate unter einem teleskopgetragenen Interimszahnersatz gedeckt einheilen. Als definitive Versorgung waren Konfektionszähne vorgesehen. Implantation und Knochenaufbau Die Behandlung fand unter Intubationsnarkose statt. In einem ersten Schritt wurde im Ober- und Unterkiefer nach einer professionellen Zahnreinigung und einer Parodontitistherapie die intraorale Situation zur Dokumentation und Planung abgeformt. Die Situationsmodelle wurden im Labor einartikuliert, die nicht erhaltungswürdigen Zähne am Gipsmodell radiert und zwei auf den Eckzähnen gelagerte Teleskopprothesen, im Oberkiefer mit Gaumenplatte, als Sofortprovisorien in einer idealisierten Aufstellung angefertigt. Die Beurteilung des Hartgewebes und die Planung der Implantatpositionen erfolgten mittels OPG- und DVT-Aufnahmen. Oberkiefer Um die vorliegende knöcherne Defekt- situation nicht noch zu vergrößern, wurden die nicht erhaltungswürdigen Zähne unter größtmöglichem Knochen- erhalt schonend extrahiert und ihre Extraktionsalveolen unter der Lupenbrille sorgfältig versäubert. Nachdem der Alveolarkamm mit einer Kugelfräse geglättet war, wurden zuerst die beiden Frontzahnimplantate in Regio 12 und 22 gemäß Protokoll eingebracht. Die knöchernen Defizite an beiden Implantaten wurden mit Knochenersatzmaterial (KEM), gemischt mit autologen Knochenspänen, die beim Glätten angefallen waren, augmentiert. Das dafür verwendete porcine KEM (MinerOss XP, CAMLOG) ist osteokonduktiv und be- schleunigt durch seine dem huma- nen Knochen strukturell ähnliche Porosität die Revaskularisation.8 Die Extraktionsalveolen im Frontzahnbereich wurden im Sinne einer Rich Preservation ebenfalls mit porcinem KEM und autologen Knochenspänen stabilisiert (Abb. 3–7). Aufgrund der Pneumatisation der Kieferhöhle verlangte die Implantation in Regio 15 zuerst einen vertikalen Knochenaufbau. Er wurde als interner Si- nuslift simultan zur Implantation durchgeführt. Bohrung und Anhebung der Schneider’schen Membran erfolgten mit dem CAS-KIT (Osstem). Danach wurde osteokonduktives porcines KEM (MinerOss XP) mit L-PRF biofunktionalisiert, der Hohlraum verfüllt und das Implantat vorsichtig eingebracht. Durch seine hohe Porosität und höhere strukturelle Ähnlichkeit zu humanem Gewebe beschleunigt porcines KEM nicht nur die Revaskularisation, sondern begrenzt auch Dimensionsänderungen nach der Extraktion und fördert eine zügige Wundheilung,2, 8, 16 was durch in der PRF enthaltene Proteine und Abb. 11: Situation nach Extraktionen und Aufbereitung in Regio 44 und 46. – Abb. 12: Applikation des porcinen MinerOss® XP mit dem Applikator. – Abb. 13: Anschließende Biofunktionalisierung des KEMmit L-PRF. 11 12 13 DIAGNOSTIK UND PLANUNG 24 Jahrbuch Implantologie 2022/23

Wachstumsfaktoren weiter begünstigt wird. Zur Volumenverstärkung der benachbar- ten hartgeweblichen Strukturen wurde palatinal und auf dem Kamm ebenfalls mit autologen Knochenspänen vermischtes Knochenersatzmaterial aufgelagert und mit resorbierbarer porciner Membran (MemLok® Pliable, CAMLOG) abgedeckt. Sie ist nachgiebig und kann daher gut an das Gewebe angelegt werden.13 Mit der nachfolgenden Insertion, weiterer KEM-Auflagerung (MinerOss XP) sowie der Abdeckung des Implantatsitus in Regio 25 mit der Membran (MemLok® Pliable) war die Abb. 14: Mit der Knochenmineral-Matrix vermischte autologe Knochenspäne. – Abb. 15: Aus venösemPatientenblut gewonnener „weißer clot“ (A-PRF) zur Biofunktionalisierung. – Abb. 16: Über die als „Trennschicht“ fungierende Membran gelegte Fibrinmatrix distal Regio 33. Abb. 17 und 18: Reizfrei abgeheilte Hart- und Weichgewebestrukturen in Ober- und Unterkiefer zwei Monate nach Implantation. – Abb. 19 und 20: Stabile Weichgewebestrukturen vor Eingliederung der Teleskopprothesen. 17 19 18 20 14 15 16 Intervention im Oberkiefer beendet und der Operationssitus wurde mit Einzelknopfnähten speicheldicht vernäht, nachdem zuvor die Membrane mit Pins fixiert worden waren (Abb. 8–10). Unterkiefer Im Unterkiefer wurden alle vier Im- plantate (SCREW-LINE) im Seitenzahnbereich positioniert: 36, 34, 44 und 46. Zur Defektauffüllung der Extraktionsalveole posterior der beiden Implantate im vierten Quadranten wurde wiederum eine Knochenmineral-Ma- trix (MinerOss® XP) appliziert und mit flüssigem L-PRF biofunktionalisiert12 (Abb. 11–13). Die Extraktionsalveole distal Zahn 33 wurde mit einem Sticky Bone augmentiert. Dazu wurden autologe Knochenspäne, gewonnen mit dem Safescraper aus dem retromolaren Bereich, mit der Knochenmineral-Matrix vermischt und wiederum mit flüssigem L-PRF versetzt. Durch das koagulierte L-PRF lässt sich die Masse gut modellieren und komfortabel in den Defekt einbringen. Das Granulat wurde wiederum mit der porcinen Mem-Lok® Pliable Membran im Sinne einer Vestibulumplastik abgedeckt. Damit lassen sich langsam proliferierende regenerative Zelltypen wie Osteoblasten und parodontale Zellen von schnell proliferierenden Epithel- und Bindegewebszellen trennen. Um darüber hinaus die DIAGNOSTIK UND PLANUNG 26 Jahrbuch Implantologie 2022/23

Wundheilung positiv zu beeinflussen, wurde noch eine aus venösem Patientenblut gewonnene und dadurch mit Thrombozyten, Leukozyten und Wachstumsfaktoren hoch angereicherte Fibrinmatrix (A-PRF) darübergelegt.15 Abschließend wurde auch der OP-Situs im Unterkiefer speicheldicht und spannungsfrei vernäht. Ober- und Unterkiefer heilten unter den herausnehmbaren zahngestützten Provisorien gedeckt ein (Abb. 14–18). Prothetische Arbeiten Aufgrund der physiologischen Beweglichkeit natürlicher Zähne einerseits und der starr osseointegrierten Implantate andererseits war ein spannungsfreier (passive fit) Sitz und damit eine exakte Passung der Teleskopprothesen von entscheidender Bedeutung. Für die definitive Versorgung wurden gemäß einer offenen Abformung mit einem individuellen Löffel vom Labor die Titanabutments als verschraubte Primärkronen konstruiert und vom DEDICAM Scan und Design Service (CAMLOG) präzisionsgefräst. Ebenso wie die vier Patrizen für die natürlichen Zähne, die jedoch herkömmlich intraoral aufzementiert wurden. Der Vorteil verschraubter Primärkronen ist die im Bedarfsfall unkomplizierte Revisionsoption am Implantat. Die weiteren Schritte, wie die Herstellung der Galvano-Sekundärkronen, der Tertiärstruktur und das spannungsfreie intraorale Verkleben, erfolgten auf herkömmlichen Wegen. Bis zur Fertigstellung der Teleskopprothesen war die Patientin mit Reiseprothesen versorgt, die an den Positionen der Patrizen hohlgeschliffen waren. Nach Überprüfung der Passung, der Friktion sowie der Okklusion wurde die definitive Versorgung mit patientenindividueller Finalisierung der roten Ästhetik mit Konfektionszähnen vorgenommen. Die Patientin wurde sorgfältig in die Hygiene ihrer Versorgung eingewiesen. Abb. 21: Röntgenkontrollaufnahme zwei Monate nach Implantation mit Patrizen auf den Pfeilerzähnen. – Abb. 22: Eingegliederte Ober- und UnterkieferTeleskopprothese in situ. – Abb. 23: Final ausgearbeitete Hybridprothesen für den Unter- und Oberkiefer. 21 22 23 DIAGNOSTIK UND PLANUNG Jahrbuch Implantologie 2022/23 27

Dr. Sangeeta Pai Die Oldenburger Zahnärzte Dragonerstraße 1 26135 Oldenburg ZÄ Romy Dech Die Oldenburger Zahnärzte An der Südbäke 1 26127 Oldenburg www.die-oldenburger-zahnaerzte.de Kontakt Abb. 24: Eine anfänglich leicht verkrampft lächelnde und nunmehr glückliche Patientin. Eine regelmäßige PA-Kontrolle im Rahmen eines systematischen Recalls ermöglicht es, das Risiko periimplantärer Entzündungen gering zu halten bzw. frühzeitig zu erkennen und damit die Restauration langfristig zu stabilisieren (Abb. 19–23). Diskussion Der Wunsch der Patientin nach einer funktionalen wie ästhetischen Versorgung unter Einbeziehung erhaltungswürdiger Restzähne kann mit einer Hybridversorgung erfüllt werden. Studien belegen eine Parität sowohl von Überlebens- als auch Komplikationsraten bei Hybridbrücken und rein implantatgetragenen Brücken.14, 18 Grundsätzliche biomechanische Bedenken bezüglich der unterschiedlichen Beweglichkeit von osseointegrierten Implantaten und vitalen Zähnen bestehen nicht.10 Durch entsprechend aufgebaute Hartgewebestrukturen und dem Erhalt von geeigneten Restzähnen kann die Implantatzahl bei vergrößertem Abstützungspolygon reduziert werden. Dabei unterstützt die Biofunktionalisierung die Hart- und Weichgewebeneubildung.3, 16 Die Kombination von Knochenersatzmaterialien und bioaktiven Wachstumsfaktoren aus dem patienteneigenen Blutkonzentrat stellt aus den bisher gewonnenen Erfahrungen eine optimale Kombination für die Regeneration des Kieferknochens dar.4 Schlussbetrachtung Der langfristige Erfolg solcher in einem parodontal kompromittierten Zahnsystem parallel im Ober- und Unterkiefer durchgeführten Versorgungen verlangt eine detaillierte Planung und ein strukturiertes Vorgehen. Letztendlich gelingen konnte es jedoch nur dank der engen, konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Chirurgin, Prothetikerin und Zahntechniker. Dem Wunsch der Patientin nach Ästhetik und Stabilität bei hohem Kaukomfort und guter Hygienefähigkeit konnte mit der gewählten Hybridversorgung vollumfänglich nachgekommen werden. Hinweis: Die zahntechnischen Arbeiten erfolgten durch ZTM K.-H. Meier, m.c. Zahntechnik, Oldenburg Abbildungen: © Marita Heeren, m.c. Zahntechnik, Oldenburg CME-Fortbildung Komplexe Rekonstrution imparodontal kompromi iertenGebiss Dr. Sangeeta Pai, ZÄ Romy Dech CME-Fragebogen unter: www.zwp-online.info/ cme/wissenstests ID: 94141 Informationen zur CME-Fortbildung Alle Wissenstests auf einen Blick DIAGNOSTIK UND PLANUNG 28 Jahrbuch Implantologie 2022/23

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